MRP-Sukzessivplanungskonzept zur Produktionsplanung und -steuerung

Zur Unterstützung der Planung, Steuerung und Durchführung der in einem Wertschöpfungsnetzwerk ablaufenden Geschäftsprozesse werden in der betrieblichen Praxis weit verbreitet computergestützte Informations- und Planungssysteme eingesetzt. Diese sog. Enterprise Resource Planning Systems (ERP-Systeme) beinhalten neben Modulen zur Buchführung, zum Controlling, zum Personalwesen usw. auch Module, die die operative Produktionsplanung und -steuerung unterstützen sollen. Man bezeichnet letztere auch als Produktionsplanungs-und -steuerungssysteme (PPS-Systeme). Im englischsprachigen Sprachraum nennt man sie MRP-Systeme (Material Requirements Planning Systems), also Systeme zur Materialbedarfsrechnung bzw. Materialbedarfsplanung. Wie der Begriff zeigt, sind diese Systeme historisch als isolierte Anwendungssysteme zur Bestimmung des Materialbedarfs für den Produktionsbereich entstanden. Die Ableitung des Materialbedarfs für untergeordnete Produkte in mehrstufigen Erzeugnisstrukturen aus gegebenen Produktionsmengen für Endprodukte ist eine einfache Rechenoperation, die mit Planung im Sinne von Entscheidungsvorbereitung bzw. Optimierung nichts zu tun hat. Deswegen war die Verwendung des Begriffs "Planning" schon in den 1960er Jahren irreführend.

Eine Analyse auch neuerer Systeme zur Produktionsplanung und -steuerung zeigt, daß diese Systeme nur in sehr geringem Umfang echte Planungsfunktionen in dem Sinn bereitstellen, daß zukünftige knappe Kapazitäten antizipiert und bei der Festlegung von Entscheidungen berücksichtigt werden. Stattdessen verlassen sich viele Software-Systeme auf die kognitiven Fähigkeiten des Planners (Erfahrungswissen) und unterstützen diesen bestenfalls durch die Bereitstellung entscheidungsrelevanter Daten. Die Konsequenz sind Produktionspläne, die wegen unzureichend berücksichtigter Kapazitäten in der Praxis nicht umsetzbar sind. Dies führt zu Nicht-Einhaltungen von versprochenen Lieferterminen, eventuell hohen Kosten für Express-Maßnahmen, mit denen Terminabweichungen vermieden werden sollen, häufigen Umplanungen (Planungsnervosität), hohen Lagerbeständen als Puffer gegen Abweichungen der Realität von der Planung usw.

Dieser auch in der industriellen Praxis von vielen Planern erkannte Mangel hat gegen Ende des letzten Jahrhunderts dazu geführt, daß sog. ”Advanced Planning Systems” (APS-Systeme) entwickelt wurden, die darauf abzielen, die Planungsschwächen der konventionellen PPS-Systeme auszugleichen. Es muß allerdings festgestellt werden, daß auch viele dieser APS-Systeme noch zu großen Teilen auf dem konventionellen PPS-Sukzessivplanungskonzept aufbauen. Man verwendet den Begriff "Sukzessivplanungskonzept", weil die gesamte Aufgabe der Produktionsplanung, die theoretisch wegen der vielfältigen Beziehungen zwischen den Entscheidungsvariablen in einem Simultanplanungsansatz gelöst werden müßten, in mehrere Stufen zerlegt wird, die nacheinander bearbeitet werden. Das simultan zu lösende Problem wird also in Teilprobleme zerlegt, die nacheinander bearbeitet werden. Dabei werden in einem Planungsschritt getroffene Festlegungen von Entscheidungsvariablen in später durchlaufenen Planungsschritten als konstante Größen behandelt. Die Zerlegung des Simultanplanungsproblems in hierarchisch angeordnete Teilprobleme ist aus vielen Gründen sinnvoll. Allerdings werden im obigen Planungskonzept auch die Teilprobleme nur unzureichend gelöst. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

Die in der betrieblichen Praxis eingesetzten Produktionsplanungs- und -steuerungssysteme folgen dem Push-Prinzip. D.h. man versucht im Voraus den gesamten Produktionsablauf zu strukturieren und legt für jede Ressource ex ante fest, wann sie mit der Durchführung einer bestimmten Aufgabe (Produktionsauftrag, Transportauftrag usw.) beginnen soll und wann diese Aufgabe abgeschlossen sein soll. 

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Bei Einsatz des Push-Prinzips erfolgt die Auslösung der Produktionsvorgänge also aufgrund eines Plans, der auf der Basis von Prognosen und im Idealfall unter Einsatz eines oder mehrerer Optimierungsmodelle aufgestellt wird. Wie oben erwähnt, sind die in der betrieblichen Praxis eingesetzten PPS-Systeme nach einem Sukzessivplanungskonzept aufgebaut, das aus verschiedenen Stufen besteht (siehe auch das obige Bild):

  • Hauptproduktionsprogrammplanung (Primärbedarfsplanung). Auf der Basis vorliegender Kundenaufträge unter Berücksichtigung von Prognosen sowie eines evtl. vorgegebenen mittelfristigen aggregierten Produktionsprogramms werden unter Einbeziehung vorhandener Lagerbestände die Produktionsmengen für absatzbestimmte Erzeugnisse (Endprodukte und Ersatzteile) ermittelt. Dies könnte prinzipiell durch die Abbildung des Problems als ein lineares Optimierungsmodell  (LP-Modell; vgl. Tempelmeier(2020), Kapitel B) und dessen Lösung mit Hilfe von Standard-Optimierungssoftware geschehen.
    Die meisten in der Praxis eingesetzten PPS-Systeme unterstützen den Planer in dieser Planungsphase jedoch nicht oder nicht ausreichend. Stattdessen wird dem Planer häufig nur eine Benutzeroberfläche angeboten, mit der er die Ergebnisse seiner manuellen Planung in das System einspielen kann. Die Folge ist, daß diese Problemstellung in der Praxis oftmals außerhalb der eigentlichen Planungssoftware mit einer Tabellenkalkulation bearbeitet wird.
    Das Ergebnis dieser Stufe ist ein Hauptproduktionsprogramm (MPS, master production schedule). 
  • Mengenplanung. Im nächsten Schritt werden ausgehend von dem zuvor fixierten Hauptproduktionsprogramm die Sekundärbedarfsmengen der untergeordneten Erzeugnisse ermittelt. Hierzu wird ein Verfahren der programmorientierten Materialbedarfsplanung eingesetzt. Dabei wird auf Informationen über die Erzeugnisstruktur, auf vorhandene Lagerbestände sowie geplante Durchlaufzeiten zurückgegriffen.
    Üblicherweise werden die Produkte sog. Dispositionsstufen zugeordnet und dann Dispositionsstufe für Dispositionsstufe der Reihe nach betrachtet. Für jedes Produkt werden die periodenspezifischen Sekundärbedarfsmengen durch Multiplikation der Nettobedarfsmengen der direkten Nachfolger in der Erzeugnisstruktur mit den Direktbedarfskoeffizienten bestimmt. Für manche Produkte kommen auch stochastische Prognoseverfahren zum Einsatz. Dies ist vor allem bei B- und C-Produkten der Fall.
    Wenn für ein Produkt alle periodenbezogenen Primär- und Sekundärbedarfsmengen bekannt sind, werden diese mit dem Lagerbestand abgeglichen. Die resultierenden Nettobedarfsmengen des Produkts bilden dann die Grundlage für eine dynamische Losgrößenplanung. Hierbei werden einfachste Losgrößenheuristiken eingesetzt, bei denen sowohl die Interdependenzen der Produkte innerhalb einer mehrstufigen Erzeugnisstruktur als auch die Kapazitäten der zur Produktion benötigten Ressourcen (z.B. Maschinen) vernachlässigt werden.
    Die Vernachlässigung der Kapazitäten ermöglicht eine Planung auf der Ebene von Produkten. Würde man Kapazitäten berücksichtigen, dann müßte man als Planungsobjekte die durch die einzelnen Ressourcen durchzuführenden produktbezogenen Arbeitsgänge betrachten. Denn ein in der Materialbedarfsrechnung betrachtetes Produkt wird oft in mehreren Arbeitsgängen durch jeweils unterschiedliche Ressourcen hergestellt. Diese Erkenntnis hat bei einem großen deutschen Software-Anbieter zur Einführung des Begriffs "Produkt-Prozeß"-Struktur geführt (allerdings in englisch: product-process model), der in der einschlägigen Literatur zur mehrstufigen dynamischen kapazitierten Losgrößenplanung schon lange als Erzeugnis- und Prozessstruktur bekannt ist (vgl. Tempelmeier (2020), Abschnitt C.3).
    Die in der Praxis durchgeführte Phase der Mengenplanung ist also eine produktbezogene Sukzessivplanung, die innerhalb eines Planungsschritts der PPS-Sukzessivplanung durchgeführt wird.
    Ergebnis dieses Planungsschritts sind grobterminierte Produktionsaufträge für alle Erzeugnisse.
  • Terminplanung. Im nächsten Schritt werden zunächst für jeden Arbeitsgang, der zur Herstellung der  Erzeugnisse durchzuführen ist, Start- und Endtermine berechnet. Dabei werden wie in der Mengenplanung unbeschränkte Kapazitäten der Ressourcen angenommen. Dieser Schritt, der in der Praxis auch als Durchlaufterminierung bezeichnet wird, arbeitet mit klassischen Methoden der Netzplantechnik ohne Berücksichtigung von Kapazitäten (MPM-Netzplantechnik; vgl. Günther/Tempelmeier (2020)). 
    Im Anschluß an diese Durchlaufterminierung wird für jede Ressource die resultierende Kapazitätsbelastung ermittelt und der Kapazitätsbedarf dem Kapazitätsangebot gegenübergestellt. Dabei stellte man regelmäßig fest, daß die in der Durchlaufterminierung ermittelten Start- und Endtermine der Arbeitsgänge nicht realisiert werden können, weil die Kapazitäten der benötigten Ressourcen nicht ausreichen. Aus diesem Grund wird im Rahmen eines Kapazitätsbelastungsausgleichs versucht, Überlastungen ggf. durch Terminverschiebungen nichtkritischer Aufträge sowie durch Einplanung von Überstunden zu beseitigen. Dies geschieht meist manuell, wobei die Auswirkungen der Verschiebung eines auftragsbezogenen Arbeitsgangs auf andere Arbeitsgänge desselben Auftrags und auf Arbeitsgänge anderer Aufträge wegen der Komplexität des Problems auch durch einen erfahrenen Planer nur unzureichend berücksichtigt werden können.
    Eine Verbesserung der Planungsqualität läge hier in der Modellierung des Problems als sog. Ressource-Constrained Project Scheduling Problem (RCPSP), für dessen Lösung zahlreiche Algorithmen zur Verfügung stehen.
    Ergebnis dieses Planungsschritts sind frühestmögliche und spätestzulässige Start- und Endtermine für die einzelnen Arbeitsgänge. Diese bilden eine Grundlage für die Einlastung der Aufträge in die Produktion.
  • Produktionssteuerung. Hier werden die im unmittelbar bevorstehenden Freigabezeitraum spätestens zu beginnenden Aufträge freigegeben und den Ressourcen zugeordnet. Für jede Ressource folgt eine Auftrags-Reihenfolgeplanung, bei der i.d.R. auf Prioritätsregeln zurückgegriffen wird.

Das Hauptproblem dieses PPS- bzw. MRP-Sukzessivplanungskonzepts besteht darin, daß in allen Planungsstufen die begrenzten Kapazitäten der Ressourcen vernachlässigt werden. Dies muß zwangsläufig zu Problemen im Hinblick auf die Durchführbarkeit eines erzeugten Produktionsplans führen.

Siehe auch ...

Literatur

Günther, H.-O. und Tempelmeier, H. (2020). Supply Chain Analytics - Operations Management und Logistik. 13. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.
Tempelmeier, H. (2020). Production Analytics - Modelle und Algorithmen zur Produktionsplanung, 6. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.