Mehrstufige Lagerpolitiken

Mehrstufige Lagerpolitiken werden eingesetzt, wenn die Bestände in mehreren Lagerstufen aufeinander abgestimmt werden müssen. Dieses Problem tritt in Supply Chains bzw. Supply Networks auf. Hierbei stellt sich die Frage, wie man den gesamten in einer Supply Chain vorhandenen Sicherheitsbestand auf die verschiedenen Lagerstufen optimal verteilen soll.

Die Beantwortung dieser Frage hängt von der genauen Struktur der Supply Chain ab. Das folgende Beispiel zeigt, daß ein beträchtliches Optimierungpotential besteht. Ein Großhändler für Bürobedarf unterhält ein Lager in Mecklenburg-Vorpommern, von dem aus er fünf Einzelhändler mit einem Produkt beliefert. Nach dem Konzept des Vendor-Managed Inventory (VMI) disponiert er den Lagerbestand bei den Händlern. Es ist verabredet, daß die Einzelhändler ihren Kunden gegenüber einen $\beta$-Servicegrad von 95% erreichen sollen. Die Belieferung der Einzelhändler erfolgt täglich. Es wird eine sog. Base-Stock-Politik verfolgt, nach der am Ende eines jeden Tages die realisierte Nachfrage eines Einzelhändlers per Internet zum Großhändler gemeldet wird und dieser für den nächsten Morgen eine Wiederauffüllung des Lagerbestands beim Einzelhändler vornimmt.

Der Großhändler verfolgt eine $(r,s,q)$-Lagerpolitik, nach der im Abstand von $r=7$ Tagen der disponible Lagerbestand mit einem Bestellpunkt s verglichen wird und bei dessen Unterschreitung eine Bestellung der Höhe q=1000 bei einem Hersteller ausgelöst wird. Die Wiederbeschaffungszeit des Großhändlers (Lieferzeit des Herstellers) beträgt deterministisch 10 Tage. Wir nehmen der Einfachheit halber an, daß alle Einzelhändler normalverteilten Periodennachfragemengen mit dem Mittelwert 20 und der Standardabweichung 5 gegenüberstehen.

Der Großhändler (der auch die Bestandsdisposition der Einzelhändler erledigt) hat nun folgende Fragen zu beantworten:

  1. Wie groß ist der optimale Bestellpunkt $s$?
  2. Wie groß ist das optimale Bestellniveau $S$ der Einzelhändler?

Es handelt sich um ein Optimierungsproblem mit den Variablen $s$ und $S$ (Bestellpunkt $s$ des Großhändlers, identische Bestellniveaus $S$ der Einzelhändler). Dabei gilt: je kleiner der Bestellpunkt $s$ (und damit der Sicherheitsbestand im Großhandelslager), umso niedriger ist der mittlere Lagerbestand beim Großhändler. Allerdings gilt auch: je kleiner der Bestellpunkt $s$ ist, umso häufiger kommt es zu Lieferverzögerungen durch den Großhändler. Die resultierende Verlängerung der Lieferzeit (=Wiederbeschaffungszeit aus der Sicht der Einzelhändler) muß durch Vergrößerung der Bestellniveaus $S$ der Einzelhändler (Erhöhung des Sicherheitsbestands) ausgeglichen werden. D.h. niedrige Lagerkosten oben sind verbunden mit hohen Lagerkosten unten und umgekehrt.

Wir betrachten einige ausgewählte Alternativen:

A) Sicherheitsbestand primär beim Großhändler (zentrale Lösung)

Analyse der oberen Lagerstufe: $(r,s,q)$-Politik:

  • Bestellpunkt $s=1539$ ($\beta$-Servicegrad = 98%)
  • Mittlerer Lagerbestand oben: 641.42
  • Lagerkosten oben: 641.42
  • Verteilung der Lieferzeit des Großhändlers Bild1

Analyse der unteren Lagerstufe: 5 identische Lager mit $(1,S)$-Politiken:

  • Erwartungswert der Wiederbeschaffungszeit 1.02
  • Bestellniveau $S=47$
  • Mittlerer Lagerbestand unten: 34.91
  • Lagerkosten unten: 34.91
  • Gesamtkosten: 676.34 Bild2
B) Sicherheitsbestand primär bei den Einzelhändlern (dezentrale Lösung)

Analyse der oberen Lagerstufe: $(r,s,q)$-Politik:

  • Bestellpunkt $s=700$ ($\beta$-Servicegrad = 35%)
  • Mittlerer Lagerbestand oben: 65.80
  • Lagerkosten oben: 65.80
  • Verteilung der Lieferzeit des Großhändlers Bild3

Analyse der unteren Lagerstufe: 5 identische Lager mit $(1,S)$-Politiken:

  • Erwartungswert der Wiederbeschaffungszeit 3.65
  • Bestellniveau $S=191$
  • Mittlerer Lagerbestand unten: 494.19
  • Lagerkosten unten: 494.19
  • Gesamtkosten: 559.99 Bild4

Vergleicht man die beiden willkürlich gewählten Alternativen, dann stellt man fest, daß die Berücksichtigung der Unsicherheit durch eine zentralen Sicherheitsbestand auf der Großhandelsstufe mit größeren Kosten verbunden ist als die dezentrale Lagerung von Sicherheitsbeständen bei den einzelnen Einhändlern.

Keine der beiden Alternativen ist jedoch optimal.

C) Optimale Lösung:

Analyse der oberen Lagerstufe: $(r,s,q)$-Politik:

  • Bestellpunkt $s=1228$ (ß-Servicegrad = 84%)
  • Mittlerer Lagerbestand oben: 362.25
  • Lagerkosten oben: 362.25
  • Verteilung der Lieferzeit des Großhändlers Bild5

Analyse der unteren Lagerstufe: 5 identische Lager mit $(1,S)$-Politiken:

  • Erwartungswert der Wiederbeschaffungszeit 1.34
  • Bestellniveau $S=84$
  • Mittlerer Lagerbestand unten: 188.76
  • Lagerkosten unten: 188.76
  • Gesamtkosten: 551.00 Bild6

Vergleich der drei Lösungen:

Alternative
Bestellpunkt s (Großhandel)
Bestellniveau S (Einzelhandel)
Kosten
A
1539
47
676.34
B
700
191
559.99
C
1228
84
551.00

Wie wurden die einzelnen alternativen Lösungen ausgewertet? Für den gegebenen Bestellpunkt beim Großhändler wurde die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Lieferzeit analytisch bestimmt. Mit der Identität "Lieferzeit des Großhändlers = Wiederbeschaffungszeit des Einzelhändlers" wurde für jeden Einzelhändler das optimale Bestellniveau $S$ für den gegebenen $\beta$-Servicegrad von 95% bestimmt. Dabei wurde nicht mit dem Erwartungswert der Wiederbeschaffungszeit gerechnet, sondern mit der gesamten Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wiederbeschaffungszeit. Für beide Lagerstufen wurden dann die resultierenden Lagerkosten exakt berechnet.

Dieses Problem wird in der Literatur auch als One-Warehouse-N-Retailer-Problem diskutiert.

Siehe auch ...

Literatur

Günther, H.-O. und Tempelmeier, H. (2020). Supply Chain Analytics - Operations Management und Logistik. 13. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.
Tempelmeier, H. (2020). Analytics im Bestandsmanagement. 7. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.