Servicegrade

Bei stochastischen Nachfragemengen und/oder Wiederbeschaffungszeiten kommt es regelmäßig vor, daß der physische Lagerbestand eines Produkts erschöpft ist und eine auftretende Nachfrage mengenicht rechtzeitig an den jeweiligen Abnehmer (Kunden) ausgeliefert werden kann. Es kommt also zu einem Fehlmenge. Ist der Abnehmer ungeduldig, dann deckt er seine Nachfrage möglichweise bei einem anderen Lieferanten und der Umsatz geht aus der Sicht des betrachteten Unternehmens verloren. Diese Situation bezeichnet man als Verlustfall bzw. "Lost Sales".

Wenn der Abnehmer aber geduldig ist - also auf der Wiederauffüllung des Lagers warten kann und will - oder wenn es für das betrachtete Produkt keinen alternativen Lieferanten gibt, dann wartet er so lange, bis der physische Lagerbestand des Produkts durch eine Lieferung (Lagerzugang) wieder aufgefüllt worden ist und die Nachfrage gedeckt werden kann. In diesem Fall wird die Kundenbestellung als sogenannter Rückstandsauftrag vorgemerkt und bei der nächsten Wiederauffüllung des Lagers priorisiert, also vor den anderen, normalen Kundenbestellungen ausgeliefert. Im englischen Sprachraum spricht man von "Backorders". Während der Zeitspanne vom Eintreffen der nicht erfüllten Kundennachfrage bis zur Wiederauffüllung des Lagerbestands existiert ein Fehlbestand bzw. ein negativer Nettobestand. Die Summe aller Nachfragemengen, die zwischen zwei Lager-Wiederauffüllungen wegen unzureichender Lieferfähigkeit des Lagers verspätet, also erst nach einer Wartezeit erfüllt werden können, bezeichnet man als Fehlmenge.

Um das Auftreten zu großer Fehlmengen und damit negative Effekte auf die Kundenzufriedenheit zu vermeiden, wird normalerweise ein Sicherheitsbestand vorgehalten. Dieser dient dazu, unvorhersehbar große Nachfragemengen während des Risikozeitraums abzudecken. Als Risikozeitraum bezeichnet man die Zeitspanne, während der das Bestandsmanagement auf die Wirksamkeit einer Entscheidung zur Auffüllung des Lagerbestands für ein Produkt warten muß. Bei Anwendung der Lagerpolitik mit kontinuierlicher Lagerüberwachung ist der Risikozeitraum identisch mit der Wiederbeschaffungszeit, also die Zeitspanne zwischen der Auslösung einer Bestellung bei einem Lieferanten und dem Eintreffen der bestellten Ware im Lager. Die Länge der Wiederbeschaffungszeit kann deterministisch sein. Dies wird in vielen Lehrbüchern unterstellt. In der Praxis ist die Wiederschaffungszeit aber oft eine Zufallsvariable. Das ist offensichtlich, wenn der Lieferant selbst ein Lager unterhält, in dem es zu ungeplanten Wartezeiten der Bestellungen kommen kan.

Erfolgt die Lagerüberwachung periodisch, dann besteht der Risikozeitraum aus der Wiederbeschaffungszeit und dem Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgender Überprüfungen des Lagerbestands. Wenn die Wiederschaffungszeit eine Zufallsvariable ist, dann ist der Risikozeitraum ebenfalls eine Zufallsvariable. Diese ist in den meisten Fällen keine kontinuierliche Variable, sondern eine diskrete Variable, deren Länge zum Beispiel in Tagen (und nicht etwa in Sekunden) gemessen wird. Die Nachfragemenge im Risikozeitraums ist dann eine zufällige Summe aus Zufallsvariablen. Siehe hierzu die Ausführungen im Lehrbuch von Tempelmeier, H., Analytics im Bestandsmanagement, 7. Auflage, Norderstedt (Books on Demand) 2020, Abschnitt A.4.5.

Die Höhe des Sicherheitsbestands hängt von der Länge des Risikozeitraums und von der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Nachfragemengen in den einzelnen Perioden des Risikozeitraums ab. Zur Bestimmung des Sicherheitsbestands sind zwei Vorgehensweisen denkbar:

  1. Sind Fehlmengenkosten bekannt, die mit dem Auftreten einer Fehlmenge verbunden sind, dann kann man die Fehlmengen - bewertet mit diesen Fehlmengenkostensätzen - in die Zielfunktion aufnehmen und die Summe aus fixen Bestellkosten, Lagerkosten und Fehlmengenkosten minimieren.
  2.  Da in der Praxis nur in den seltensten Fällen Fehlmengenkosten bekannt sind, verwendet man oft einen sogenannten Lager-Servicegrad, der in einer Nebenbedingung bei der Minimierung des Sicherheitsbestands berücksichtigt wird.

Es gibt verschiedene Varianten von lagerbezogenen Servicegraden, die sich sowohl sachlich als auch z.T. durch ihren zeitlichen Bezug unterscheiden, z.B.

$\mathbf{\alpha}$-Servicegrad

Der $\alpha$-Servicegrad ist eine ereignisorientierte Kennziffer. Er gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, daß ein eintreffender Bedarf vollständig aus dem vorhandenen Lagerbestand erfüllt werden kann. Dabei kommt es nur darauf an, daß überhaupt eine Lieferunfähigkeit auftritt. Ob die nicht erfüllte Nachfragemenge nur eine Mengeneinheit ist oder ob es sich um einen großen Auftrag von einem Großkunden oder um sehr viele kleine Aufträgen von eine großen Zahl einzelner Nachfrager handelt, bleibt unbeachtet. 

Man unterscheidet den periodenbezogenen und den zyklusbezogenen $\alpha$-Servicegrad.

Der periodenbezogene $\alpha$-Servicegrad gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, daß eine zu einem beliebigen Zeitpunkt eintreffende Nachfrage vollständig aus dem vorhandenen physischen Lagerbestand erfüllt werden kann. Bei einer Zeiteinteilung auf Tagesbasis (diskrete Zeitachse) geht es dann um die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der physische Bestand am Periodenanfang ausreicht, um die Nachfragemenge in einer Periode vollständig zu erfüllen.

Um diesen Servicegrad in der Bestandsplanung berücksichtigen zu können, muß man die Wahrscheinlichkeitsverteilung des physischen Lagerbestands quantifizieren können. Dies ist oft schwierig.

Der zyklusbezogene $\alpha$-Servicegrad gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, daß innerhalb eines Beschaffungszyklus, d.h. innerhalb eines Risikozeitraums keinee Fehlmenge auftritt. Über einen längeren Zeitraum betrachtet ist die gleichbedeutend mit dem Anteil der Beschaffungszyklen ohne aufgetretene Fehlmenge an der Gesamtanzahl von Beschaffungszyklen pro Periode.

Der  zyklusbezogene $\alpha$-Servicegrad wird in der Lehrbuchliteratur oft beschrieben. Er eignet sich aber nicht zur Beschreibung der logistischen Leistung eines Lagers. Nimmt man zum Beispiel bei einer Gesamtnachfrage pro Jahr (Periodenänge = 1 Jahr) von 10000 Mengeneinheiten und einer Länge der Beschaffungszyklus von einem halben Jahr (d.h. zwei Beschaffungszyklen pro Periode) an, daß im ersten Beschaffungszyklus eine Fehlmenge von einer Mengeneinheit und im zweiten Beschaffungszyklus überhaupt keine Fehlmenge aufgetreten ist, dann beträgt der zyklusbezogene $\alpha$-Servicegrad nur 50%. Das ist kein aussagekräftiges Ergebnis, weil die gesamte Nachfrage fast vollständig (d.h. zu 99.99%) ohne eine Lieferverzögerung erfüllt wurde.

$\mathbf{\beta}$-Servicegrad

Der $\beta$-Servicegrad ist dagegen eine mengenorientierte Kennziffer, mit der das Problem des $\alpha$-Servicegrads vermieden werden kann. Der $\beta$-Servicegrad beschreibt den Anteil der Gesamtnachfragemenge pro Bezugsperiode, der ohne eine lagerbedingte Lieferzeit ausgeliefert werden kann. Bezieht man sich auf einen typischen Beschaffungszyklus, dann setzt man die ohne Lieferverzögerung ausgelieferte Nachfragemenge ins Verhältnis zur gesamten Nachfragemenge in dem Beschaffungszyklus. Bei Betrachtung der stationären Entwicklung des Lagerbestands (d.h. bei unendlichem Planungshorizont) kann man den zyklusbezogenen $\beta$-Servicegrad als repräsentativ für den langfristig erreichbaren $\beta$-Servicegrad betrachten. In Planungsmodellen mit endlichem Planungshorizont (z.B. in dynamischen Losgrößenmodellen mit stochastischer Nachfrage) gibt es einige Besonderheiten, die in Tempelmeier, H., Production Analytics, 7. Auflage, Norderstedt (Books on Demand), Kapitel D, eingehend erläutert werden.

Sowohl der $\alpha$-Servicegrad als auch der $\beta$-Servicegrad  sind anbieterorientiert. Denn sie bieten einem Nachfrager wenig Anhaltspunkte zur Beurteilung der logistischen Leistung, die er selbst beobachtet. Die wichtigste Eigenschaft eines Lieferanten (bzw. Lagers) aus der Sicht eines Kunden betrifft die Frage, ob er sofort bedient wird oder, falls er warten muß, wie lange die Wartezeit sein wird. Es geht also um die Wartezeit, die unter stochastischen Bedingungen eine Zufallsvariable ist, welche die Werte von 0, 1, 2, usw. .... Perioden annehmen kann. Über die Wartezeit (abgesehen vom Wert 0) sagen die oben genannten Servicegrade nichts aus. 

Die folgenden beiden Sericegrade versuchen, den zeitlichen Aspekt mit zu erfassen.

$\mathbf{\gamma}$-Servicegrad

Der $\gamma$-Servicegrad soll nicht nur die Höhe der aufgetretenen Fehlmenge, sondern auch die jeweiligen Wartezeiten der Kundenaufträge erfassen. Während für den $\beta$-Servicegrad im nur die in einem Beschaffungszyklus aufgetretene Fehlmenge, bzw. im Normalfall der Fehlbestand unmittelbar vor der Wiederauffüllung des Lagers relevant ist, interessiert man sich beim $\gamma$-Servicegrad auch für die Fehlbestandsentwicklung in den davorliegenden Perioden. Wenn man sich die Bestandsentwicklung am Ende einer laufenden Wiederbeschaffungszeit ansieht, dann stellt man fest, daß sich in den letzten Perioden vor dem Lagerzugang der Fehlbestand für das betrachtete Produkt aufbaut.

Im folgenden Beispiel sieht man den Bestandsverlauf ein einer Wiederbeschaffungszeit (Perioden 6 bis 9), in dem sich in den Perioden 7 bis 9 Fehlbestand aufbaut.

Periode 5 6 7 8 9
Nachfrage 0 6 5 4 5
physischer Bestand am Periodenende 10 4 0 0 0
Fehlbestand am Periodenende 0 0 1 5 10

Der $\gamma$-Servicegrad summiert die periodenbezogenen Fehlbestandsmengen (1+5+10) und setzt diese ins Verhältnis zur Gesamtnachfragemenge in einem Beschaffungszyklus. Für den $\beta$-Servicegrad dagegen würde man nur den Fehlbestand (10) am Ende der Periode 9 berücksichtigen.

Der $\gamma$-Servicegrad kann negative Werte annehmen, wenn der durchschnittliche Fehlbestand größer ist als die durschnittliche Periodennachfragemenge.

$\mathbf{\delta}$-Servicegrad

Der $\delta$-Servicegrad vermeidet die Schwäche des $\gamma$-Servicegrades. Negative Werte werden verhindert, indem der durchschnittliche Fehlbestand anstatt auf die Nachfragemenge auf den maximalen Fehlbestand bezogen wird. Dieser Servicegrad ist für stochastische Losgrößenmodelle relevant. 

Alle bisher genannten Servicegrad vermitteln dem Nachfrager keine Informationen über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wartezeit einer Nachfragemenge, d.h. die Lieferzeit. Die Kenntnis der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Lieferzeit eines Produzenten (bzw. Lagers) ist beispielsweise dann relevant, wenn der Abnehmer selbst ein Lager betreibt (z.B. ein Händler). Bekanntlich hängt die Höhe des Sicherheitsbestands (beim Händler) von der Wahrscheinlichkeitsverteilung seiner Nachfragemenge im Riskozeitraum ab. Diese hängt aber von der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Länge des Risikozeitraums ab, welche durch die Wiederbeschaffungszeit (= Lieferzeit des Produzenten) beeinflußt wird.

Lieferzeit

Eine kundenorientierte Leistungskennziffer ist die Lieferzeit, d.h. die Zeitspanne, die zwischen der Auftragserteilung durch den Kunden (Wunschtermin) und dem tatsächlichen Liefertermin liegt. Die Lieferzeit ist eine Zufallsvariable, deren Wahrscheinlichkeitsverteilung davon abhängt, welche Lagerpolitik der Anbieter verfolgt.

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Servicegrad-Definitionen sind am einfachsten mit Hilfe einer Simulation zu erkennen. Siehe hierzu: Produktions-Management-Trainer.

Die genannten Leistungskriterien des Lagers werden in der Bestandsoptimierung über eine Nebenbedingung berücksichtigt. So kann man z.B. den Sicherheitsbestand so festlegen, daß der Anteil der Fehlmengen an der gesamten Nachfrage in einem bestimmten Zeitraum einen vorgegebenen Prozentsatz nicht übersteigt.

Siehe auch ...

Literatur

Tempelmeier, H. (2020a). Analytics im Bestandsmanagement . 7. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.
Tempelmeier, H. (2020b). Inventory Analytics. 3. Aufl., Norderstedt: Books on Demand. (englisch)
Tempelmeier, H. (2023). Production Analytics. 7. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.
Günther, H.-O. und Tempelmeier, H. (2020). Supply Chain Analytics - Operations Management und Logistik. 13. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.