Demand Driven MRP

Demand Driven Materials Requirements Planning (DDMRP) ist eine Planungsphilosopie, mit der die prognosebasierte Planung der Wertschöpfungsprozesse (Push-System) durch ein Pull-System ersetzt werden soll. Ziel ist es, das Material kontinuierlich in einer gleichmäßigen Bewegung zu halten (Flow), was gleichbedeutend mit geringen Lagerbeständen und kurzen Durchlaufzeiten ist. Gleichmäßig bedeutet, daß die Variabilität im Materialfluß so weit wie möglich reduziert wird. Denn Varianz ist Gift für die Effizienz von Wertschöpfungsprozessen.

Es wird ein sog. Gesetz der Systemvariabilität postuliert, nach dem die Knoten in einem logistischen Netzwerk (bzw. in einer Supply Chain) mit zunehmendem Fortschritt der Wertschöpfungprozesse unproduktiver werden. D.h. die Variabilität nimmt mit fortschreitendem Materialfluß zu. (Beim Bullwhip-Effekt ist es umgekehrt.) Zur Begründung dieses "Gesetzes" wird festgestellt, daß Störungen in einer Stufe des Materialflusses flußabwärts propagiert werden und sich verstärken. Kommt es z.B. zu einer verspäteten Lieferung für ein benötigtes Zulieferteil, dann kann dies zu einer Verzögerung der Produktion und damit zu einer Erhöhung der Durchlaufzeit des betrachteten Produkts führen.

DDMRP betont, daß herkömmliche Kosteninformationen für Abrechnungszwecke geignet, für Zwecke des Planung aber ungeeignet sind.

DDMRP steht im Gegensatz zum klassischen MRP II-Konzept (heute als Bestandteil von sog. ERP-Systemen weit verbreitet), von dem behauptet wird, es sei eine Methode zur effektiven Planung der Nutzung aller Ressourcen in der Produktion.

Die Feststellung, das MRP II-Konzept sei in der Lage, eine effektive, d.h. zulässige und kostenminimale Planung des Einsatzes knapper Ressourcen in der Produktion zu unterstützen, ist nicht korrekt. Vielmehr ist allgemein bekannt und unumstritten, daß MRP II die beschränkten Kapazitäten der Ressourcen nicht in einer kapazitätsorientierten Planung erfaßt, sondern bestenfalls nach Aufstellung eines Plans hilft, dessen Zulässigkeit zu überprüfen. Wie der optimale Plan aussieht, kann mit dem MRP II-Konzept nicht ermittelt werden. Dieses Mißverständnis ist in der Praxis (und leider auch in zahlreichen Lehrbüchern zum Operations Management sowie in Veröffentlichungen von APICS) weit verbreitet. (vgl. hierzu Günther, Hans-Otto und Horst Tempelmeier, Produktion und Logistik - Supply Chain und Operations Management, 12. Auflage, Norderstedt(Books on Demand) 2016.)

Die auf Nachfrageprognosen basierende, zukunftsorientierte Planung (Push-Prinzip) wird mit MRP II gleichgesetzt. Im Gegensatz dazu wird propagiert, die Wertschöpfungsprozesse an der beobachteten Nachfrage auszurichten (Pull-Prinzip) und dabei die Geschwindigkeit der Wertschöpfung bzw. den "Flow" zu maximieren.

Die Gleichsetzung von prognosebasierter Planung mit dem MRP II-Konzept ist nicht zutreffend. Immer dann, wenn die Nachfrage nicht gleichmäßig, sondern dynamisch ist, kommt es bei nachfragesynchroner Produktion zu Kapazitätsengpässen. In diesem Fall kann es notwendig sein, zukünftige (prognostizierte) Nachfragemengen früher, d.h. auf Lager zu produzieren, um diese termingerecht an die Abnehmer ausliefern zu können. Dies wird nur durch eine vorausschauende, kapazitätsorientierte Planung möglich.

Das DDMRP-Konzept beinhaltet, daß alles, was den "Flow" behindert oder blockiert, zu beseitigen ist.

Wenn mit der Produktion Rüstzeiten (oder Rüstkosten) verbunden sind, dann kann i.d.R. nicht nach dem Pull-Prinzip produziert werden. Vielmehr müssen zukünftige Nachfragemengen zu einem größeren Los zusammengefaßt werden, damit es nicht zu Kapazitätsüberschreitungen durch ständiges Rüsten kommt. Da die Nachfragen üblicherweise dynamisch sind, sich also von Periode zu Periode unterscheiden, muß auch die Losgrößenplanung diese Dynamik berücksichtigen. Durch die Losgrößenbildung kommt es zwangsläufig zu einer Unterbrechung des Materialflusses, da auf Vorrat produzierte Produkteinheiten bis zu ihrem Bedarfszeitpunkt (also nach der Produktion) warten müssen. Diese Wartezeit nach der Produktion ist im Gegensatz zur Wartezeit vor der Produktion (wie sie bei einer kapazitätsignoranten Planung gemäß MRP II vorkommt) nicht ineffizient, sondern für die Erreichung der Produktionsziele erforderlich.

Um den kontinuierlichen Materialfluß gegen Störungen zu immunisieren, werden Puffer in Form von Sicherheitsbeständen, Sicherheitszeiten oder Reservekapazitäten an sog. Entkopplungspunkten eingeführt. Dabei wird behauptet, daß es im MRP II-System keine derartigen Entkopplungspunkte gibt. Im DDMRP wird z.B. der Sicherheitsbestand (als Bestandteil des gesamten Lagerbestands an einer Position) indirekt unter Anlehnung an Konzepte der statistischen Prozeßkontrolle definiert. Man teilt den Lagerbestand in drei Zonen Rot, Gelb, Grün ein. Ist der Bestand in der roten Zone, dann ist er aufzufüllen. In ähnlich grober Weise wird Sicherheitszeit und Reservekapazität gehandhabt. Dabei scheint nicht verstanden worden zu sein, daß die Positionierung der Sicherheitsbestände einen Einfluß auf ihre Höhe hat.

Die Behauptung, daß es im MRP II-Konzept keine Entkopplungspunkte gibt, trifft nicht zu. Sicherheitsbestände, Sicherheitszeiten und auch Reservekapazitäten findet man in allen Unternehmen, die dem MRP II-Konzept folgen. Unabhängig davon, ob nun dem DDMRP-Konzept oder dem klassischen MRP II-Konzept gefolgt wird, besteht aber in beiden Fällen das Problem, die Größe und Position dieser Puffer festzulegen ('Strategic Positioning of Safety Stock"). Dieses Problem ist im MRP II-Konzept ungelöst. Das DDMRP-Konzept bietet hierzu aber auch keine Antworten, die über grobe Daumenregeln hinausgehen. Von Optimierung kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Die in manchen Publikationen zum DDMRP zu findenden Vorschläge zur Festlegung von Sicherheitsbeständen ( = durchschnittliche Nachfrage pro Periode * Länge der Wiederbeschaffungszeit) sind falsch, da sie gerade nicht die Variabilität der Nachfrage berücksichtigen.

DDMRP empfiehlt, an verschiedenen Stellen in einem Wertschöpfungsnetzwerk sog. Kontrollpunkte einzurichten, an denen Maßnahmen zur Sicherstellung des kontinuierlichen Materialflusses ergriffen werden können. Ein solcher Kontrollpunkt könnte z.B. am Produktionsengpaß eingerichtet werden.

Auf Kontrollpunkte könnte man weitgehend verzichten, wenn man bereits bei der Produktionsplanung die kritischen Ressourcen berücksichtigt. Interessant ist auch, daß empfohlen wird, den (einzigen) Engpaß zu identifizieren und zu steuern. In den meisten Betrieben ist der Engpaß nicht fix, sondern bei dynamischem Bedarf wandert der Engpaß. Dabei ist erst nach der Planung bekannt, wo der Engpaß sich in einer Periode befindet. Hierbei hilft das DDMRP-Konzept wenig.

Der vom DDI publizierte simulationsbasierte Vergleich von stochastischen Lagerpolitiken mit DDMRP (Autor Sebastián González) geht von unzutreffenden Vorstellungen hinsichtlich der (s,q)- und der (r,S)-Lagerpolitik aus, die folglich in dem Simulationsvergleich fehlerhaft eingesetzt werden. So ist hinreichend bekannt, daß - anders als der Autor behauptet - diese Politiken auch für nicht-normalverteilte Nachfrageverteilungen mit höheren Variationskoeffizienten (z.B. die Gamma-Verteilung) und auch für diskrete Nachfragen eingesetzt werden können. Auch für sporadische Nachfrage (intermittent demand) gibt es geignete Varianten dieser Politiken. Insbesondere für das betrachtete Handelsunternehmen eignen sich auch andere Lösungskonzepte.

Für das DDMRP-Konzept gilt dasselbe wie für alle Planungskonzepte (bzw. Management-Philosopien), die auf dem Pull-Prinzip basieren. Es funktioniert nur, wenn die Voraussetzungen des Pull-Prinzips gegeben sind. Ein Vergleich mit MRP II ist nicht sehr aussagekräftig, da dieses System wegen seiner vielen Schwächen nicht als Planungssystem bezeichnet werden kann. Insbesondere fällt auch auf, daß auf die Probleme der durch Rüstzeiten induzierten Losgrößenplanung keine adäquate Antwort gegeben wird. Für Unternehmen, in denen dynamische, periodenspezifische Kundennachfrage erfüllt werden muß, ist die Eignung dieses Systems anzuzweifeln. Wie beim Pull-Prinzip im Allgemeinen, so sollte ein Entscheidungsträger, bevor er seine Planung auf DDMRP umstellt, sorgfältig prüfen, ob die Bedingungen seiner Wertschöpfungsprozesse so sind, daß sie mit derartig einfachen Konzepten geplant werden können. In vielen Unternehmen wird dies nicht der Fall sein.

Prinzipiell kann man für das Supply Chain Management und die Produktionsplanung feststellen, daß einfache Planungskonzepte und Daumenregeln der Komplexität der Realität meistens nicht gerecht werden. Insbesondere mit zunehmender Verfügbarkeit von Daten über das Nachfrageverhalten, die mit Konzepten des Data Mining und des Machine Learning zur Prognose zukünftiger Nachfrageentwicklungen genutzt werden können, werden Planungskonzepte gebraucht, die diese Daten auch verarbeiten und in machbare Produktionspläne bei geringen Kosten umsetzen.

Interessanterweise wird DDMRP von Softwarehäusern aufgegriffen und unter dem Label Advanced Planning propagiert.